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Die Schlaufen des Fadens

Die Schlaufen des Fadens

Man möchte es fast für einen Anachronismus halten, dass Jürgen Buhre sich mit Nachdruck als "Maler" bezeichnet. Und in gewisser Weise trifft das auch zu. Denn wer mag in unserem vielfach beschworenen digitalen und vernetzten Zeitalter noch auf künstlerische Ausdrucksformen setzen, die auf Qualitäten des buchstäblich "Handgemachten" aufbauen? Nicht zuletzt also auf die unmittelbare Wirkung und die physische Präsenz des künstlerischen Artefakts, deren verlustreiches Verschwinden der Philosoph Walter Benjamin bereits in grauer Vorzeit des Medienzeitalters konstatierte und die in unserem digitalen Kosmos vollends zum Phantom geworden zu sein scheint.

Buhres Malerei indes belegt, dass sich diese Form der Auseinandersetzung mit Bildern nach wie vor als spannend erweist. Man muss nicht, wie Benjamin es tat, den pathetischen Begriff der "Aura" bemühen, um zu umschreiben, was der Besucher der Atelierräume in der Herner Künstlerzeche "Unser Fritz" als unmittelbar ansprechend erlebt: Bilder, die in der Varianz ihrer Formate Nähe oder Distanz, ein Darauf-Zugehen und Sich-Entfernen fordern; Strukturen und Oberflächen, die sich im Licht verändern und regelrecht "begriffen" werden wollen (wozu der Künstler den Besucher ausdrücklich ermuntert). Die Begegnung mit Malerei also, die auf Unmittelbarkeit und Dialog setzt, dabei wohl auch eine gewisse Hingabe fordert. Kurzum, eine Form der künstlerischen Kommunikation, die im Grunde nur in diesem Medium realisierbar und daher nach wie vor ohne Konkurrenz ist.

"Informel" ist zwar ein strapazierter Stilbegriff der neueren Kunstgeschichte, aber auf Buhres Bilder trifft er doch zu. Gemeint ist etwa das Bemühen, den Bildträger, sei es Leinwand oder Papier, zu strukturieren, ihn aufzurauen oder zu zerfurchen. Freilich handelt es sich nicht um Materialbilder im engeren Sinne, auch wenn tatsächlich häufig Schichten von dünnem Zellstoffvlies in die Farbsubstanz eingearbeitet werden und strukturbildend sind. Ebenso oft ist es aber die Farbmaterie selbst, die dem Bildträger haptischen Charakter verleiht. Die dabei vorzugsweise zum Einsatz kommende Acrylfarbe versteht Buhre so zu handhaben, dass auch dickere plastische Verwerfungen und Verkrustungen möglich sind. Vielfach sich überlagernde Farbschichten, mal lasierend, mal pastos, dann wieder verrieben oder mit dem trockenen Pinsel aufgebracht, lassen diese Feinstruktur der zerfurchten Bildoberfläche mit ihren zahlreichen Erhöhungen und Vertiefungen hervortreten. Großflächigen, meditativ-ruhigen Bildzonen in lichthaften Grundklängen aus Gelb-, Ocker- und Weißtönen kontrastieren dabei oftmals hitzige Wucherungen in grellem Orangerot, hervorbrechend oder vermengt mit diffus wabernden dunklen Farbwolken, die an Ruß oder an Verbranntes denken lassen. Neuere Arbeiten entfalten dabei zuweilen eine Dramatik, die von Ferne an den späten William Turner erinnert. Dann wieder wird ein ruhigerer Ton angeschlagen, werden Assoziationen geweckt an lang anhaltende Prozesse der Sedimentation oder Zersetzung, vielleicht auch hier und da an den flüchtigen Eindruck, den der Anblick einer alten, fleckigen Mauer im Vorbeigehen hinterlässt. Das Prozesshafte des Malens bleibt dabei, vor allem in neueren Arbeiten, in den Verlaufsspuren flüssiger Farbe oftmals greifbar. Dennoch ist Buhres Malerei, wenngleich der Zufall eine einkalkulierte Größe ist, doch eher diszipliniert in dem Sinne, als hier nicht ein ausdruckshaft-gestisches "Wollen", sondern das reflektierte Bemühen um die "richtige" bildimmanente Ordnung die Richtschnur bildet.

Das gilt in anderer Weise auch für die eigentümlichen graphischen Kürzel, die der Farbmaterie einbeschrieben sind und als figurative Verweise auf Erlebtes und Gesehenes deuten. Wer ihn danach fragt, den klärt Jürgen Buhre mit Hingabe und hintergründigem Humor über die ganz konkreten Geschichten und Gedanken auf, die sich hinter anspielungsreichen Bildtiteln wie "Naturbursche", "Feigling" oder "Entscheidung" verbergen. Meist sind es alltägliche Begegnungen und Begebenheiten – dabei nicht selten das uralte Verhältnis der Geschlechter, inbegriffen alle Register zwischenmenschlicher Emotionen, von Zuneigung und Lust über Abneigung, Zweifel oder Furcht. Buhres Bilder haben hierin, so abstrakt und „informel“ sie auf den ersten Blick daherkommen, einen erzählerischen, ja geradezu „poetischen“ Kern und oftmals ganz konkrete, individuelle Bezugspunkte zur Alltagserfahrung.

Und doch kann das Wiedererkennen oder Nachempfinden jener alltäglichen Erlebnisse nur bedingt die Intention der Bilder sein. Denn tatsächlich bilden die graphischen Kürzel, die in Buhres Bildwelt seit Jahren in stetig neuen Konstellationen aufeinandertreffen, eine derart reduzierte Syntax, das in ihnen das Alltägliche sozusagen in einer grundsätzlichen Weise verdichtet erscheint: Ebenso wie im Falle der faszinierenden minimalistischen Plastiken aus gebogenem Stahldraht, die gleichsam wie die zufälligen Schlaufen eines fallengelassenen Fadens menschliche Formen bezeichnen, handelt es sich um eine reduzierte Zeichenhaftigkeit, die tatsächliche Seheindrücke lediglich als "Spur" und in der denkbar offensten Weise andeutet. Der Vergleich mit archaischen Höhlenzeichnungen oder kindlichen Kritzeleien, der zunächst naheliegend scheint, trifft daher den Kern der Sache nicht ganz. Eher möchte man, wie dies einmal im Falle von Alberto Giacometti vorgeschlagen wurde, den phänomenologischen Begriff der "eidetischen Reduktion" bemühen: Die Verdichtung eines gesehen Eindrucks zu einem vorgestellten Bild. Im Falle Jürgen Buhres wird dabei die Grenze zwischen einer noch abbildhaften und einer gänzlich ungegenständlichen Bildsemantik ausgelotet.

Andreas Zeising