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Zur Soziologie des Buhre-Menschen

Jürgen Buhre liebt die Menschen. Und Jürgen Buhre liebt die Farben. Das sind die Schlüssel zu seinem Werk. Jürgen Buhre liebt die Farben – nun, er liebt die meisten Farben. Blau liebt er nicht – ausgerechnet Blau, eine Epochen prägende Farbe in der Kunst. Dafür liebt er Rot, das er, wie kein anderer, in vielfältigsten Nuancen zum Leuchten zu bringen versteht. Er liebt auch Orange, Gelb, sogar Hellgrün, Schwarz und Weiß. Schwarz und Weiß, gern auch in unendlichen Nuancierungen, haben bei ihm sogar an Konjunktur gewonnen.

Jürgen Buhre liebt die Farben so sehr, dass er sie fett und plastisch aufträgt. Das Wort "pastös" zu gebrauchen, wäre eine Untertreibung. Mit Hilfe von Trägermasse schafft er vielmehr ganze Gebirge und schroffe Schluchten aus Farbe. "Du musst das Bild so hängen, dass die schrägstehende Abendsonne darauf fällt", gibt er dann als Anweisung, um das Spiel von Licht und Schatten zu erzeugen, das seine Bilder so lebendig macht.

Jürgen Buhre liebt die Menschen – nun, er liebt die meisten Menschen. Wer ihm krumm kommt, den liebt er nicht. Aber das liegt immer am anderen. Jürgen Buhre selber ist offen, freundlich, warmherzig, geht auf jeden zu. Weil er die Menschen liebt, malt er Menschen. Genauer gesagt, malt er den "Buhre-Menschen". Der Buhre-Mensch ist abstrahiert. Meist reichen wenige Linien aus, die Kopf, Körper und Gliedmaßen einen höchst lebendigen Ausdruck verschaffen. Den Menschen trivialisiert er nicht zum Strichmännchen, sondern er entwickelt ihn zur ausdrucksstarken Figur, die manchmal ohne Arme auskommt, manchmal ohne Beine, um eine Haltung auszudrücken.

Unterernährt mögen sie sein, die Buhre-Menschen, aber niemals unterkühlt. Sie sind höchst emotional – manchmal fröhlich, manchmal traurig, manchmal stolz, manchmal schüchtern, bisweilen stark und machtvoll, und manchmal zurückhaltend und schwach. Viele Figuren sind mit Titeln versehen, die Hinweise auf ihre Befindlichkeit geben, aber häufig sind es nur Funktionsbezeichnungen (wie "Ballerina") und es bleibt dem berühmten Auge des Betrachters überlassen, welchen emotionalen Zustand er in die Haltung und die Farbwelt dieses Buhre-Menschen hinein interpretiert.

Viele Jahre lang hat Jürgen Buhre seinen Menschen variiert – in verschiedenen Farben, in unterschiedlichen Umgebungen, mit wechselnden Haltungen. Der Künstler hatte seinen Stil gefunden – was nicht hieße, diesen nicht weiter zu entwickeln. Jürgen Buhre liebt die Menschen, liebt die Farben, liebt aber auch einen guten Wein. So hat er seinen "Buhre-Wein" kreiert. In Zusammenarbeit mit einem Ingelheimer Weingut hat er ein Etikett für einen Wein geschaffen, einen Frühburgunder-Rotwein. Deutscher Rotwein? Jawohl, Jürgen Buhre hat einen der wenigen deutschen Rotweine ausfindig gemacht, die ihren französischen Pendants aus dem Burgund ebenbürtig sind. Der Buhre-Wein schmeckt nach einer Melange aus Frucht und mineralischen Aromen, nach roten Beeren und nach Feuerstein.

Der Wein ist das Produkt der Kunst des Winzers, die Verpackung das Produkt der Kunst des Malers. Jürgen Buhre hat seinen Wein in eine Holzkiste gepackt, Flasche für Flasche. Und den Deckel dieser Holzkiste ziert – wie könnte es auch anders sein – ein Buhre-Mensch, mal auf Rot, mal auf Orange, mal auf Weiß und Rot und mal auf Gelb, aber immer leuchtend und lebendig. Man mag die Holzkiste senkrecht stellen wie eine Skulptur, man kann auch den Deckel wie ein Bild hängen, vielleicht auch in einem Acryl-Kasten oder hinter einer Glasscheibe, um der Holzplatte einen Rahmen zu verschaffen.

Die Weinkisten waren eine Weiterentwicklung, die Draht- und Stahlskulpturen eine andere. Sind schon die gemalten Buhre-Menschen plastisch, so lag es nahe, konsequenter in die dritte Dimension zu gehen. Und was bot sich für die dreidimensionale Figuration des dürren Buhre-Menschen besser an als Draht? Zunächst entwickelte Jürgen Buhre kleine, handliche Modelle aus Draht. Dann sah man ihn, ausgerüstet mit feuerfesten Handschuhen, Schweißgerät, Hammer und Zange in der großen Halle der Schwarzkaue der Künstlerzeche Unser Fritz, wie er eine riesige Skulptur aus Stangenstahl formte, unterstützt von einem gelernten Schlosser.

Der skulpturale Buhre-Mensch ist lebendig wie seine zweidimensionalen Brüder – er hat die gleichen fließenden Formen, die sich zu bewegen scheinen, obwohl sie aus massivem Stahl gefertigt sind. Und doch stecken nicht nur Emotion und Intuition in diesen Formen. "Dafür habe ich eine Menge Mathematik benötigt", verrät der Künstler, "damit die Skulptur auch standfest ist".

Die nächste Weiterentwicklung des Buhre-Menschen stellten die Portraits dar. Jürgen Buhre begann, nur Köpfe zu malen – natürlich in seinem typischen Stil, mit kräftigen, plastischen Farben, stark abstrahiert und dennoch (oder besser: deshalb) ausdrucksstark.

Den weitesten Schritt nach vorn hat Jürgen Buhre unternommen, als er das begehrte Stipendium an der Cité Internationale des Arts in Paris erhielt. Im November und Dezember 2012 hat er sich von Paris inspirieren lassen. Voller Begeisterung, mit blitzenden Augen, mit funkensprühendem Witz berichtete er unmittelbar nach seiner Rückkehr von den Anregungen, die ihm Paris gegeben hatte. Zwei Erlebnisse haben seine Kunst besonders bereichert: die "Vintage-Kultur" der Pariser- das Zelebrieren des Alten, Gebrauchten - und die berühmte Pariser Oper.

Beides inspirierte Jürgen Buhre zur Arbeit an neuen Sujets mit neuen Materialien. Er begann, die Tänzer und Tänzerinnen darzustellen, die ihn in der Oper so fasziniert hatten, und zwar einerseits gegenständlicher, natürlicher, mit voller ausgeprägten Körpern, als es der unterernährte Buhre-Mensch aus dünnen Linien gewesen war. Andererseits hatte der Künstler in der Oper und auf den Flohmärkten die Materialität des Kleiderstoffes aufgenommen und entwickelte seine Tänzer und Tänzerinnen aus mit Farbe getränkten Stofflappen, alten Mallappen, die er in seinem Atelier über Jahre angesammelt hatte und die er mit nach Paris gebracht hatte, um diesen Figuren Materialität, Plastizität und Leben zu verleihen. Wohl selten hat ein Künstler aus seinem Stipendium an der Cité Internationale des Arts so viel Inspiration gewinnen können wie Jürgen Buhre.

Und der Innovationszyklus ist längst nicht beendet. Weitere Ideen und Projekte folgen, beispielsweise die Bilderserie "Das königliche Spiel", das schwarz-weiße Schachfiguren zeigt ebenso wie Spieler und Strategen.

Kein Zweifel: So wie homo sapiens aus einer Evolution hervorgegangen, so gibt es auch die Evolution des Buhre-Menschen. Wir dürfen gespannt sein, welche Entwicklungen noch auf uns warten.

Volker Eichener